Flucht aus Breslau

18. Mai 2016: Regina Jahn, geb. Wagner (lebt heute in Wandlitz) beschreibt in Ihren Aufzeichnungen sehr detalliert die Erinnerungen an die Flucht 1945. Sie kam in Adersleben an und überlebte.


Regina Jahn - Erinnerungen an die Flucht 1945

Mein Großvater war ab 1940 als Angestellter der "Reichsgesellschaft für Landwirtschaft mbH" auf verschiedenen Rittergütern in Polen als Bezirksinspektor im Warthegau der Provinz Posen bis zur Flucht 1945 eingesetzt.

Da wegen des Krieges die kleinen Kinder aus Breslau evakuiert wurden, habe ich wahrscheinlich von 1940 bis zu meiner Einschulung im Herbst 1943 bei meinen Großeltern in Polen (Generalgouvernement) gelebt. Mutti musste ja in Breslau arbeiten, und mein Bruder Dieter ging dort schon zur Schule.

Ständig drohende und tatsächliche Luftangriffe auf Breslau und die Festungsvorbereitungen ließen ein Bleiben nicht zu. Am 21. April 1944 wurden wir aus Breslau evakuiert, d.h. Mutti und wir Kinder sind zu den Großeltern nach Breckenfeld (Ligota) im Kreis Großwartenberg (Sycow), Warthegau, gezogen und dort auch zur Schule gegangen.

Im Herbst 1944 wurden mehrere Familien "Schwarzmeerdeutsche", u.a. eine Familie Steinbrenner bei uns in Breckenfeld einquartiert. Es existiert noch ein Bild mit mir und einem von den Mädchen. Einer von den Jungs dieser Familien hat sich immer auf den Göpel gesetzt und sich dabei schwer verletzt. Er ist mit einem Bein in das Getriebe gekommen und hat es dabei verloren. Er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht und dort versorgt. Auf Grund der Kriegswirren und dem Umstand, dass er wegen der schweren Verletzung nicht transportfähig war, konnte er nicht gemeinsam mit seiner Familie flüchten. Mutti hat nach ihm geforscht und ihn in Leipzig - Probstheida in einer christlichen Einrichtung gefunden. (Ein Göpel ist ein Gerät, mit dem eine Maschine angetrieben wird. In der Mitte befinden sich Zahnräder, die von einem immer im Kreis laufenden Pferd bewegt werden, die dann eine Maschine antreiben).

Zum Jahresende 1944 wurden die Meldungen über den Kriegsverlauf immer kritischer, die Front kam immer näher, sodass Opa der Familie empfohlen hat, sich auf die Flucht vorzubereiten.

Oma, die das Packen gewohnt war, schließlich führte sie mit dem Opa fast ein Wanderleben, hat sich beizeiten auf eine Rückreise nach Deutschland vorbereitet. Sicher hat sie nicht damit gerechnet, dass es eine Flucht werden sollte. Oma hatte für jeden von uns einen Beutel für wichtige Dokumente, Geld und Schmuck vorbereitet, den wir dann unter der Kleidung tragen sollten und auch trugen. Am 19. Januar 1945 kam der Befehl, dass alle Deutschen sich innerhalb von 2 Stunden auf die Flucht zu begeben haben. Ein Herr Kurt Schmalz - das habe ich im Internet gefunden - wurde vom Gauleiter mit der Führung des Trecks aus dem Warthegau beauftragt. Daraufhin wurde auch unser Treck zusammengestellt und in Marsch gesetzt. Oma hatte bereits alles zur Abfahrt vorbereitet. Die Schwarzmeerdeutschen hatten kein Interesse, mit uns nach Deutschland zu gehen. Auf Grund der Order, das Gut innerhalb von 2 Stunden zu verlassen, entschieden sie sich nun doch, mitkommen zu wollen. Die bereits gepackten Wagen wurden zum Teil wieder abgeladen, da sonst nicht alle Menschen mitgenommen werden konnten. Ursprünglich war geplant, dass wir in der Kutsche fahren und das Gepäck wie immer in den Wagen befördert werden sollte. Da nicht genügend Pferde zu Verfügung standen, wurden nicht die Kutsche, sondern ein zusätzlicher Leiterwagen angespannt. Das Ergebnis war, dass auch Dinge abgeladen wurden, die wichtig waren, und anderes mit weniger Bedeutung bleib auf dem Wagen, So war z.B. ein Sack Zucker an Bord.

Wir machten uns entsprechend der Order nach Deutschland auf den Weg. Opa durfte uns nicht begleiten, er mußte in Breckenfeld zurück bleiben. Wir fuhren mit drei offenen Pferdewagen, die keine Plane hatten, los. Mich hatte Mutti unter eine Decke gepackt, da der Schneefall teilweise sehr stark war, außerdem hatten wir Minusgrade von bis -19 Grad. Es haben sich außer uns - Oma, Mutti und wir Kinder - noch mehrere Familien der Schwarzmeerdeutschen sowie das Gepäck auf den Wagen befunden. Mutti hatte die volle Verantwortung auch für diese Menschen. Aus Sicherheitsgründen hat sie die Männer der Schwarzmeerdeutschen so auf die Wagen verteilt, dass sich die Familien nicht gemeinsam auf einen Wagen befanden, damit sich keine Familie einfach selbständig machen konnte. Diese Maßnahme war notwendig, da außer diesen Männern nur Frauen und Kinder auf diesen Wagen waren. Sie waren die einzigen Männer, die die Wagen führen konnten.

Mein Opa hat in weiser Voraussicht die Pferde mit ordentlichen Stollen beschuhen lassen, so daß sie auf dem Eis nicht so rutschen konnten. Die Straßen waren spiegelglatt. Die Pferde liefen auf der Mitte der Straße, und der Wagen hing schräg in Richtung Straßengraben. Viele andere Wagen sind im Graben gelandet. Die Bilder blieben mir im Kopf. Oma war während der Flucht manchmal ohnmächtig geworden. Wir hatten furchtbare Angst um sie. Mutti wurde von den Männern aufgefordert, Oma doch im Straßengraben abzulegen, da sie schon tot wäre. Man hat es damals mit Toten so gemacht. Mutti hat Oma aber mit Ohrfeigen immer wieder zurückgeholt. Sie war nur ohnmächtig. Besonders schlimm war es, als der Rückzug der deutschen Armee begann und die Wehrmachtautos an uns vorbeifuhren. Zum Teil wurden die Pferdefuhrwerke von ihnen bedrängt, und die landeten dann neben der Straße im Graben. Nach Aussage von Mutti haben wir uns mal unter einer Brücke befunden, über die die rückflutenden Panzer fuhren. Das Geräuch hat mich bis in die siebziger Jahre verfolgt.

Mutti war immer bemüht, für die Leute etwas zu essen zu besorgen. Die Gehöfte, an den wir vorbeikamen, waren von den Bewohnern meistens schon verlassen. So konnten wir wenigstens etwas Essbares finden. An der Seite unseres Wagens hing ein Kochgeschirr, in das Mutti Milch gefüllt hat. Wir haben dann gefrorene Milch zum Lutschen bekommen. Geschlafen haben wir in leeren Gehöften und Scheunen, wobei immer einer Wache halten musste, damit wir am Morgen nicht ohne Pferde dastanden. Welchen Weg der Treck mit verschiedenen Zwischenaufenthalten auch in Abhängigkeit der Frontbewegung genommen hat, weiß ich nicht. Mein Bruder hat mir folgende Orte genannt: Breckenfeld - Militsch - Rawitsch - zurück nach Kalisch - von dort Richtung Glogau - Sagan - Forst, in Forst dann über die Oder. Die Route ging kreuz und quer. Leider konnte ich meinen Bruder nicht davon überzeugen, mir bei der Aufarbeitung behilflich zu sein. Unser Treck sollte am 13.2.1945 in der Bombennacht, als Dresden von den Alliierten in Schutt und Asche verwandelt  wurde, dort ankommen. Er blieb in Elsterwerda, da Dresden überfüllt war - für uns ein großes Glück. In Elsterwerda erhielten wir Quartier bei einer sehr netten Frau. Ich habe dort in einem Kinderbett gestanden und das Feuer am Himmel über Dresden gesehen. Der Himmel war hellerleuchtet. Ich habe es nicht vergessen, aber ich bin froh, dass wir an diesem Tag nicht in Dresden waren. In Elsterwerda ist Opa Wagner zu uns gestoßen. Er durfte ja nicht mit uns flüchten, sondern musste bis zum Schluß in Breckenfeld bleiben. Da er ein Pferdefuhrwerk für sich allein hatte, konnte er den zurückgelassenen Teil unseres Eigentums mitbringen. Er hat dann die Leitung des Trecks übernommen, was ihm später zum Verhängnis wurde. Der Treckleiter, der unseren Treck geleitet hatte, war in Richtung Westen geflohen. Er hat in Westdeutschland eine steile Kariere gemacht. Seine Biographie ist im Internet nachzulesen.

Unsere Flucht endete am 23.2.1945 in Adersleben Domäne, Gutshof 2, heute Ortsteil von Wegeleben, im Harz. Auf dem Gelände der Domäne Adersleben befanden sich neben dem Herrenhaus und den Nebengebäuden (Stallungen und Speicher), die zur Bewirtschaftung der Domäne noch nötig waren, eine Kirche, das Kloster St. Nicklaus und eine Schnapsbrennerei. Der Schnaps wurde dort aus Kartoffeln gebrannt.

Wir wurden zuerst in das Hauptgebäude der Domäne Adersleben eingewiesen. Der Raum, der uns zugewiesen wurde, war das Billardzimmer. Wer im Einzelnen wo schlief, weiß ich nicht genau. Mein Bruder Dieter musste auf dem Sofa mit hohen Seitenlehnen, das für Ihn zu kurz war, schlafen. Opa schlief auf dem billard. Woran ich mich erinnern kann ist, dass Oma ihm einen faden an das Bein gebunden hat, damit sie ihn, wenn er zu sehr schnarchte, wecken konnte.

Am 11.4.1945 rückten die Amerikaner ein und belegten das Hauptgebäuder, wir mussten in den Klostertrakt umziehen. Dort wurde uns eine Klosterzelle zugewiesen, in der wir mit noch einer Familie aus Köln (Frau Goebel mit zwei Kindern) wohnten. Sie bewohnte mit ihren Kindern den vorderen Teil an der Tür, im hinteren Teil am Fenster wohnten wir, d.h. Oma, Opa, Mutti, Dieter und ich. Ein Schrank stand quer, um den Raum zu teilen. Die Spanische Wand, die Mutti aus dem Billardzimmer mitgenommen hatte, benutzten die Frauen für Ihre Zwecke. Zwischen dem Fenster und Omas Bettgiebel befand sich eine Kochgelegenheit, ich glaube mit zwei Kochstellen. Auf dem Flur befanden sich mehrere Plumsklos. In dem Kloster waren noch andere Flüchtlinge untergebracht. Frau Goebel war mit ihren Kindern Rolf und Günther wegen der Bombardierung von Köln nach Adersleben evakuiert worden. Kurz nach dem Abzug der Amerikaner sind sie wieder zurück nach Köln gezogen. So hatten wir den Raum dann für uns allein. Mit Familie Goebel (Tante Alice) haben wir, vorallem Mutti, immer Verbindung gehalten.

Die Amerikaner haben als erste Handlung alle technischen Geräte, Fotoapparate, Ferngläser, Uhren u. ä. bei Androhung von Strafen eingesammelt. Anschließend wurde alles in die Bode geworfen. Mit den Besitzern der Domäne waren sie gut Freund, und diese haben beim Vorrücken der Russen mit den Amerikanern die Flucht unter Mitnahme aller wertvoller Sachen und Möbel ergriffen. Vom 18.5.1945 bis zum Eintreffen der Russen am 1.7.1945 waren zwischenzeitlich auch noch die Briten in Adersleben. Da die Frauen vor den Soldaten große Angst hatten, wurden sie von Pfarrer Tömme in der Kirche versteckt.

Auch mit der Versorgung war es nicht gut bestellt. Einmal hat Dieter aus einem liegengebliebenen Versorgungszug der Wehrmacht für uns Esswaren besorgt. Der Zug war geplündert worden. Darüber wird in einer Chronik über Wegeleben genauer berichtet. Mutti hat auf dem Speicher gearbeitet, d.h. sie hat Korn schippen müssen, damit es nicht zu warm wird. Also von einem Berg auf den anderen. Es war eine sehr schwere Arbeit, und es gab nur wenige Pfennige dafür. Ich frage mich immer mal, wie sie es geschafft hat, für uns zu sorgen.

Adersleben ist heute ein Ortsteil von Wegeleben. Zwischen Adersleben und Wegeleben fließt die Bode. die im Frühjahr 1946 Hochwasser führte. Die Brücke über die Bode war überflutet, sodass wir nicht zur Schule gehen konnten. Wir sind bis Mitte April 1946 in Wegeleben zu Schule gegangen. Auf den Wiesen an der Bode blühten viele Gänseblumen. Wir Mädchen haben uns daraus Kränze geflochten. Damals wurden die Zuckerrüben in Loren von den Feldern zu den Zuckerfabriken befördert. Die Jungs sind auch auf den Loren mitgefahren, sicherlich unerlaubt.

Als Mutti den Antrag auf einmalige Zuwendung für Vertriebene am 22. März 1994 gestellt hat, schreibt sie in der Begründung zur Flucht unter anderem: "In Adersleben haben wir unter lagerähnlichen Bedingungen gelebt". Unsere erste Meldeunterlage war ein Flüchtlingspass, der am 23.2.1945 ausgestellt wurde.

Am 19.10.1945 kamen nachts Männer in unsere Unterkunft, verhafteten Opa Wagner und nahmen ihn mit. er wurde ins Stadtgefängnis Halberstadt eingeliefert. Von dort bekam Oma am 29.10.1945 die Aufforderung, für ihn Sachen ins Gefängnis nach Halberstadt zu bringen. Der Brief wurde meiner Mutti ausgehändigt, die auch Margot hieß. Mutti hat dann alles geregelt, da Oma sehr krank war. Auf Grund von Recherchen, die ich bereits 2007 begonnen hatte und 2015 weitergeführt habe, besteht nun etwas Klarheit über die Verhaftung meines Großvaters. Aus Mühlberg liegt mir ein Auszug über Verhaftete in dem Speziallager Mühlberg vor, aus dem hervorgeht, dass Opa nach seiner Verhaftung erst am 15.11.1945 von Magdeburg nach Mühlberg/Elbe überführt wurde. Als Haftgrund ist angegeben: "Seit 1939 in der NSDAP, Verwalter in Polen". Eine Mitarbeiterin der "Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V." hat mir mitgeteilt, daß nur verurteilte Häftlinge rehabilitiert wurden. Demnach war er nicht verurteilt worden, sondern "nur" gefangen gehalten, offenbar unter schlimmen Bedingungen. Über nur Verhaftete gibt es keine weiteren Informationen. Sämtliche Unterlagen befinden sich in russischen Archiven.

Allerdings waren einen Tag später alle unsere Pferde und Wagen verschwunden. Mutti hat vermutet, dass es wohl außer den Russen noch andere Interessenten an unseren Pferden gab. Oma hat die Situatuion nicht verkraftet. Sie hat nachts fantasiert, ist aufgestanden und hat sich gegen die Männer gewehrt, die Opa verhaftet hatten, hat die Mutti angegriffen und bedroht. Am Tage lag sie nur im Bett, konnte nicht laufen, nicht aufstehen und von den Vorgängen in der Nacht hatte sie keine Erinnerung. Mutti fiel es immer wieder schwerer, sie in ihren Wahnvorstellungen ruhig zu stellen. Sie war der Meinung, daß sie Oma aus Adersleben, dem Ort, wo Opa abgeholt wurde, wegbringen muß.

Sie hat sich dann schweren Harzens an Opas Schwester Feda Pfeiffer in Wachau bei Leipzig und Onkel Winus um Hilfe gewandt. Es wurde vereinbart, dass wir, Oma, Mutti, Dieter und ich, Adersleben verlassen.

Wir sind dann im April 1946 mit nur wenig Gepäck nach Wachau bei Leipzig gezogen. Unsere übrigen Sachen hat Mutti bei einer befreundeten Familie, ich glaube mich zu erinnern ihr Name war Meinhardt, in Adersleben untergestellt. Die untergestellten Sachen hat Mutti später abgeholt.

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